Das heilige Land
Verängstigt blickte sie in die Augen, die voller Hass und
Zorn auf sie gerichtet waren. Sie stand vor mehreren Männern und Frauen, die
ihre Fäuste geballt hatten, den Baseballschläger in der Hand und hasserfüllte
Parolen gröhlend.
Die kleine Samila fragte sich, was sie noch alles
ertragen sollte. Sie war gerade einmal 10 Jahre alt. Schon viele Grausamkeiten
hatte sie in ihrem Leben erfahren müssen. Vom heiligen Land hatte sie sich
etwas anderes versprochen. Dass sie zur Ruhe kommen konnte, dass die endlos
andauernde und brutale Flucht ein Ende hatte und sie in Frieden abwarten
konnte, wie sich die Dinge in ihrem Heimatland entwickelten. Sie hoffte auch,
endlich wieder zur Schule gehen zu können – und das möglichst ohne erneut um ihr
Leben fürchten zu müssen.
Doch als sie im heiligen Land ankam, wurde sie mit
Hassparolen und Kampfansagen der Wutbürger empfangen. In diesem Moment wurde
ihr bewusst, dass sie im heiligen Land auch nicht wirklich willkommen war –
zumindest von denen, die den Weg auf sich genommen und vor die Tür der
Containerstadt gekommen waren. Aber warum nur? Was hatte sie verbrochen, dass
sie nirgendwo willkommen war? War es einfach nur deshalb, dass sie so geboren
wurde, wie sie geboren war? Sollte das nun heißen, dass sie ihr restliches
Leben lang immer auf der Flucht sein würde?
Samila fragte sich, ob diese Menschen, die sie
offensichtlich vertreiben wollten, wussten, was sie alles bis zum heutigen Tag
durchgemacht hatte, was alles geschehen war. Ob diese „Kämpfer“ eigentlich
wussten, wie viel Respekt Samila vor dem heiligen Land hatte und wie viel
Ehrgefühl, dort hoffentlich aufgenommen zu werden?
Zu gerne würde sie diesen „Kämpfern“ ihre Geschichte
erzählen… Aber ob sie ihr zuhören würden…? Zu sehr schienen die „Kämpfer“ damit
beschäftigt zu sein, zu denken, Samila würde ihnen als Asylantin alles nehmen,
wofür sie hart gearbeitet hatten, sogar die Luft zum Atmen würde sie ihnen
nehmen. Diese Luft, die nur ihnen ganz allein zustünde.
Früher hatten sie sich nie um die Obdachlosen in ihrer
Stadt gekümmert – im Gegenteil. Beschimpft hatten sie sie. „Geh endlich
arbeiten, du Penner!“ hatten sie ihnen oft zugerufen. „Ihr Dreckspack
verschandelt unsere Straßen! Haut endlich ab!“ Doch jetzt schienen ihnen die
Obdachlosen wie gerufen zu kommen. „Für dieses Asylantenpack gibt der Staat
Geld aus, aber unsere armen Obdachlosen, um die kümmert sich keiner. Dafür ist
kein Geld da, um ihnen zu helfen.“
Auch wenn Samila die Sprache des heiligen Landes nicht
verstand, so verstand sie trotzdem.
„Ich bin kein Nazi, aber man wird jawohl noch seine
Meinung sagen dürfen“, keifte eine dreifache Mutter in ein Fernsehmikrofon,
bevor sie einen riesigen Stein in Richtung Samila warf und den Stacheldrahtzaun
traf, hinter dem sich das kleine Mädchen und all die anderen Geflohenen
aufhielt.
Samila hielt es dort nicht mehr aus und verschwand in
einem der Container, die für die Flüchtlinge bereitgestellt wurden – in der
wunderschön wärmenden Sonne, bei 40 Grad im Schatten. Doch die Container
standen nicht im Schatten… Innen drin erwartete sie eine stickige Hitze und die
unterschiedlichsten Gerüche, die menschliche Körper bei steigenden Temperaturen
produzierten – bei nur 5 Duschen für 500 „Bewohner“.
Samila machte im Flur kehrt und lief zurück hinaus, denn
gerade war Rita mit ihrer Tochter angekommen. Alle Bewohner der Containerstadt
liebten Rita. Ihre Besuche waren immer ein ganz besonderes Erlebnis und zeigte
Samila, dass es doch noch Engel auf Erden gibt – auch im heiligen Land.
Obgleich Rita keinen leichten Stand bei den Anwohnern des Ortes hatte. Auch sie
wurde bedroht, beschimpft, es wurden die Reifen ihres Autos zerstochen… Doch
Rita konnte man nicht zum Aufgeben bewegen, denn tief in ihr drin wusste sie,
dass sie das einzig Richtige tat, was man in dieser Situation überhaupt tun
konnte.
Rita war bereits Rentnerin und eine sehr liebevolle Frau.
Oft brachte sie mit ihrer Familie oder Freunden Sachspenden vorbei, die sie
gesammelt hatte. Egal ob Decken, Kleidung, Spielzeug, Obst aus dem eigenen
Garten oder Süßigkeiten. Sie brachte immer etwas mit, was unter den Bewohnern
der Containerstadt aufgeteilt wurde. Aber nicht nur das. Sie brachte nicht nur
lebenswichtige Dinge vorbei und fuhr dann wieder nach Hause. Nein, Rita schuf
eine Brücke für all diese Menschen. Ein paar Mal bereits hatte sie in der
Containerstadt mit ihrem Mann einen Dia-Abend veranstaltet, an denen sie allen
Interessierten sämtliche Dias zeigte, die sie bei ihren Urlauben quer durch das
heilige Land gemacht hatte. So konnten die Interessierten – und von denen gab
es so viele, dass der Raum aus allen Nähten platzte – eine Menge sehen und
kennen lernen. Rita übte sich darin, den Bewohnern der Containerstadt Deutsch
beizubringen, und sie half beim Formulare ausfüllen. Ihre Tochter Simone, die
von Beruf Erzieherin war, setzte sich mit den Kindern hin und bastelte die
unterschiedlichsten Dinge mit ihnen – auch manchmal mit den großen Kindern,
denn die Langeweile in der Containerstadt war gigantisch. Sämtliche Materialien
brachte Simone selbst mit. Sie liebte das Glitzern in den Augen der kleinen und
großen Kindern zu sehen, wenn sie ein Fensterbild fertig gebastelt hatten, eine
Laterne oder irgendetwas anderes. Abends las sie den Kleinen auch öfter noch
ein Kinderbuch vor und brachte ihnen auf diese Weise die deutsche Sprache
näher.
Die gesamte Familie von Rita und Simone, sowie viele
ihrer Freunde, halfen mit – sei es durch Spenden oder durch
Beschäftigungsangebote.
All dies ließ Samila zwischendurch für einen Moment
vergessen – vergessen, dass ein wild gewordener Mob vor der Containerstadt
herum stand, der sie loswerden wollte, aber auch den Tag, an dem die Barbaren
über ihre Heimat herfielen, sie ausraubten, abschlachteten, ausbluten ließen,
vergewaltigten, ausbombten und versklavten. Diese Barbaren hatten ihr ihre
Heimat genommen und ihre Familie auf brutalste Weise ausgelöscht. Die Eltern
ihrer besten Freundin hatten sie mitgenommen auf die Flucht in das heilige
Land. Die Flucht war hart und anstrengend – über viele Monate. Es gab kaum zu
essen und zu trinken. Oftmals wurden sie von den Schleusern verprügelt,
irgendwo eingesperrt oder von ihren Angehörigen getrennt. Es gab etliche
Flüchtlinge, die diesen Weg ins heilige Land nicht überlebten. Auf den letzten
Metern ins heilige Land, als sie mit zig anderen Flüchtlingen eingequetscht im
dunklen Frachtraum eines Lkws war, kippte neben ihr ein älterer ausgemergelter
Mann um. Er fiel einfach zur Seite und setzte sich nicht wieder auf. Diese
Fahrt dauerte zwei Tage, in denen sie so ausharren musste. Allerdings hatte sie
vorweg noch viel Schlimmeres erlebt: ihre Mutter vor ihren Augen von 5 Barbaren
vergewaltigt und als Sklavin abgeführt; ihrem Vater, der ihrer Mutter zur Hilfe
eilen wollte, die Kehle aufgeschlitzt und ausbluten lassen; ihre beiden Brüder
wurden einfach verhaftet.
Die kleine Samila hatte nur deshalb überlebt, weil keiner
der Barbaren sie gefunden hatte. Sie hatte sich gut versteckt in der hintersten
Ecke unterm Bett.
Kurz vor ihrer Flucht erfuhr sie von so genannten
Insidern, dass keiner ihrer Angehörigen den Überfall überlebt hatte. Samila war
von diesem Tag an komplett auf sich allein gestellt und musste ums Überleben
kämpfen.
Und nun war sie hier – im heiligen Land, das vollkommen
hin und her gerissen war zwischen Hilfsbereitschaft und falsch verstandenem
Nationalstolz, bis hin zu blankem, boshaftem Rassenhass.
Für Samila war klar, sie musste irgendwo ein Zuhause
finden, in dem sie zur Ruhe kommen konnte. Sie musste dringend ihre
Traumatisierung auskurieren und sich eine Zukunft aufbauen. Sie wollte die
Hoffnung nicht aufgeben, dass das heilige Land auch wirklich das heilige Land
war. Ihre treuen Augen wanderten zum wolkenlosen Himmel hinauf. Die Sonne
schien in ganzer Pracht. „Ja“, dachte Samila im Stillen, „so sieht Frieden
aus.“
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